Page 6 - 3. Teil: Kratylos hat Recht - Kurt Olbrich
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die Urwörter - wie auch die späteren Wörter - erstens motiviert
sind, d. h., dass die Buchstabenfolge, also die Bezeichnung, eine
Aussage über das bezeichnete Ding macht, und zweitens, dass die
Aussage über die Buchstaben zustande kommt. Sie seien nicht die
Urwörter selbst, sondern deren Konstifuenten.
Der als Sprachexperte befragte Kratylos stimmt beiden Aussagen
zu, wobei für ihn die Buchstaben aber nicht Konstituenten der
Urwörter, sondern offensichtlich die Urwörter selbst sindl Er
wendet sich ferner gegen die These von Sokrates, dass zum einen
schon die Urwörter und dann auch deren Folgewörter - auf ihrem
Weg zum aktuellen Wort - die in ihnen liegende Aussage wegen
ftilschlich hineingegebener und/oder herausgenommener sowie
vertauschter Buchstaben nur ungenav zum Ausdruck brächten. Für
Kratylos sind die Buchstaben in den Wörtern (zu jeder Zeit) nach
grammatischen Regeln angeordnet. Sie dürften nicht verändert
werden. Sie hätten in jedem Wort genau an der Stelle zu stehen, wo
sie stehen. Kein Buchstabe dürfe vertauscht, hinzugefügt oder
entfernt werden. Weiterflihrende Aussagen macht Kratylos trotz
Sokrates' diesbezüglicher Bemühungen nicht, offenbar wegen
einer Schweigeverpflichtung (siehe Kurt Olbrich: Platon, Kratylos,
2. T ell: Erläuterung, Krummhöm 2016).
Sowohl die Motivation der Wörter als auch die Bedeutung der
einzelnen Buchstaben werden von der heutigen Sprachtheorie
zurückgewiesen. Die Frage, warum die Dinge so heißen, wie sie
heißen, wird mit der Arbitraritätsthese beantwortet. Danach steht
die Bezeichnung eines Wortes in keinem inhaltlichen
Zusammenhang at dem jeweils bezeichneten Ding. Die
Bezeichmrngen seien den Dingen willkürlich zugekommen und
hätten sich im Laufe der Zeit zu den heutigen Formen entwickelt.
Ein Beleg flir diese These kann allerdings nicht vorgelegt werden.
Der Hinweis auf die in den Sprachen unterschiedlichen Wörter flir
ein und dasselbe Ding - so wie von de Saussure vorgetragen -
kann nicht als Beleg angesehen werden. Er ist in sich
widersprüchlich: In diesem Fall ist ja das Zu-Erklärende
gleichzeitig das Erklärende.
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